Lesen stärkt. Vorlesen verbindet.

Freie Schule Christophine · Lesen ¯ August 2025

Warum Bücher mehr sind als Seiten mit Buchstaben –
und Lesen mehr ist als Bildung.

Es kommt vor, wir erleben uns im eiligen Dauerrauschen, umgeben von grellem Flackern. Vieles drängt, blinkt und lenkt ab. In diesem ständigen Strom kann ein Buch wirken wie ein stiller Gegenpol. Es mutet an wie ein anachronistisches Objekt, ist aber ein Bezugspunkt gleich einem Anker. Lesen braucht Ruhe und schenkt Tiefe. Es entschleunigt. Es lädt dazu ein, länger bei etwas zu bleiben. Und genau das können Kinder gebrauchen: Konzentration, Mitgefühl und Sprache. Nicht irgendwann, sondern jetzt und immerzu. Die Schule soll dafür ein Ort sein.

Lesen beginnt nicht mit dem ersten Buchstaben. Es beginnt mit Nähe, auf dem Schoß. Dort beim Zuhören und beim gemeinsamen Lachen. Ob es in der Küche ist, auf dem Sofa oder in der Eisenbahn. Es ist Beziehung, bevor es Bildung ist. Und es ist eine Erfahrung, die wir allen Kindern wünschen. Unabhängig vom Geldbeutel der Familie, vom Bildungsgrad der Eltern oder von der Sprache, die zu Hause gesprochen wird. Lesen darf kein Privileg sein. Es ist ein Recht.

Lesen schafft Wissen und öffnet Räume. Kinder tauchen ein in fremde Welten und entdecken dabei oft etwas sehr Eigenes. Sie spielen mit Sprache, erweitern ihren Wortschatz und begreifen, wie Kommunikation funktioniert. Aber sie lernen auch, sich einzufühlen. Wie geht es der Figur, die Angst hat? Was fühlt jemand, der ausgeschlossen wird? Bücher vermitteln nicht nur Grammatik und Lexik, sondern eröffnen auch den Blick für eine differenzierte Einstellung zum Leben.

Ein gutes Buch bringt neue Ideen. Es kann trösten oder herausfordern, Hoffnung machen oder zum Widerspruch reizen. Es ist kein Ersatz für andere Medien, aber ein guter Kontrast. Und manchmal ist es eine Einladung zum Nachdenken, zum Mitreden oder zum Dranbleiben. Natürlich haben digitale Medien ihren Platz. Auch sie können anregen, bilden und verbinden. Entscheidend ist nicht das Entweder-oder. Entscheidend ist, was wir daheim und in der Schule draus machen.

Lesen ist nicht für alle gleich. Aber es schafft einen gemeinsamen Boden. Wer liest, lernt, sich auszudrücken und andere zu verstehen. In einer demokratischen Gesellschaft ist das unverzichtbar. Wir brauchen Kinder, die mitreden. Die sich ein Bild machen, Fragen stellen und ihre Antworten finden. Bücher unterstützen genau das. Sie geben Impulse, wecken Neugier und stiften Gesprächsanlässe. Nicht zuletzt in der Schule.

Bei Christophine ist das nicht Theorie, sondern tägliche Unterrichtspraxis. Lesen findet statt im Dialog, in der Gruppe oder im Einzelnen. Bücher liegen bereit und Gespräche über Geschichten entstehen. Lesen ist für Christophine kein Extra, sondern Teil des Tages. Manchmal laut, manchmal leise und oft auch gemeinsam.

Damit das gelingt, braucht es Strukturen. Es braucht Räume, in denen Bücher selbstverständlich zugänglich sind. Es braucht Zeit zum Vorlesen und Menschen, die diese Zeit bewusst gestalten. Es braucht die Kraft, Sprache lebendig zu halten. Und es braucht pädagogische Entscheidungen, die Leseförderung nicht als Zusatz verstehen, sondern als Kernaufgabe.

Denn Lesen gehört zu unserer Vorstellung von Bildung. Es ermöglicht aber auch die Teilhabe an unserer Kultur. Lesen ist etwas, was uns miteinander in Verbindung bringt: durch Sprache, durch Geschichten, durch gemeinsames Verstehen.

Lesen heißt: die Welt begreifen. Und Vorlesen heißt: gemeinsam in ihr ankommen.

LO · April/August 2025